Depressive Männer sind anders als gedacht
Es stimmt nicht, dass Frauen doppelt so häufig depressiv werden, wohl aber, dass sich Depressionen bei Männern anders äußern. In Summe leben derzeit rund 400.000 Österreicher mit einer Diagnose, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Eine Depression ist anders, als die meisten glauben – und vor allem anders, als es im Fernsehen oder in Zeitungen häufig dargestellt wird.“ Denn mit Traurigkeit, sagt Klemens Brückler, habe eine Depression nichts zu tun. Zumindest beim Mann. Ebenfalls nicht korrekt sei die Annahme, dass Frauen doppelt so häufig daran erkranken. Fest steht hingegen: Rund 400.000 Menschen in Österreich leben mit der Diagnose, wobei ihre Dunkelziffer unter Medizinern weit höher angelegt wird.
GESUNDHEIT
Ein Bild, das sich international umlegen lässt: Fünf Prozent der globalen Bevölkerung sind der Weltgesundheitsorganisation zufolge betroffen. Damit stellen Depressionen nach Herz-Kreislauf- Leiden die zweithäufigste Erkrankung dar. Allerdings: Rund 45 Prozent der Betroffenen erhalten keine adäquate Behandlung oder lehnen eine solche ab. Der Grund: „Die Depression ist sehr stigmatisiert, die Patienten schämen sich dafür“, sagt Siegfried Kasper. „Viele befürchten, für verrückt gehalten und ausgegrenzt zu werden, wenn sie zugeben, eine Therapie zu durchlaufen oder Medikamente zu nehmen – und schießen sich damit selbst ins Aus“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut.
Ein Problem, das vor allem Männer betrifft: „Man sollte einem Mann nicht direkt sagen, dass er depressiv ist, das nimmt er in aller Regel nicht an, sondern schimpft über den Irrenarzt, an den er da geraten ist“, erzählt Kasper von Erlebnissen in seiner Praxis. „Bei dem Wort Depression fühlen sie sich schwach, sehen sich als Weichei an und fürchten um ihre Männlichkeit“, sagt der emeritierte Professor für Psychiatrie an der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Med-UniWien.
Die Betroffenen schlafen schlecht, sind aufbrausend und reagieren aggressiver
Erfolgversprechender sei es da, sich einer Diagnose über die körperlichen Symptome anzunähern. „Die Betroffenen sind aufbrausend, unkonzentriert, brauchen für Arbeiten länger als früher, schwitzen, leiden an Schlafstörungen, vor allem aber sind sie aggressiver, oft auch gegen sich selbst“, sagt Kasper. „Das kann so weit gehen, dass sie sich das Leben nehmen.“ Tatsächlich gehen zwischen 70 und 80 Prozent der Suizide mit depressiven Erkrankungen einher. „Zählt man ihnen das alles auf, räumen sie leichter ein, dass es ihnen schlecht geht“, sagt der Facharzt. Und kann sich ihrem Gemütszustand annähern.
(Selbst-)Diagnose am PC. Eine Stütze auf diesem Weg ist das Programm Klenico, das in Österreich in einer Handvoll Praxen in Anwendung ist. So etwa in der ADBWien, einer auf die Behandlung von Angststörungen und Depressionen von Männern spezialisierten Schwerpunktpraxis. „Die 2019 entwickelte Software erstellt auf Basis eines dynamischen Fragebogens Cluster und schafft durch eine grafische Darstellung bei den Männern mehr Akzeptanz für ihre Diagnose“, sagt deren Therapeutischer Leiter, Marc Nairz-Federspiel. „Der Patient hat etwas zum Angreifen und muss nicht allein dem Wort des Arztes glauben“, meint der Psychiater und Psychotherapeut.
Im Detail bedeutet das: Nach dem Erstgespräch bekommt der Betroffene einen Link zu einer Online-Umfrage.
Dort gilt es, die eigenen Beschwerden und Verhaltensweisen zu bewerten, etwa: „Ich bin leicht reizbar“ oder „Ich bin ständig am Grübeln“. Je nach Antwort ergibt sich die nächste Frage oder die Bitte, einen Schweregrad anzugeben. Nach ein bis vier Stunden – „die Dauer hängt vom Umfang der Beschwerden ab“ – erstellt Klenico eine Karte aus blauen Feldern und Kreisen. Jedes Feld steht für eine Krankheit, jeder Kreis für ein Symptom.
„Ist eine Person depressiv, sind mehrere Kreise im Depressionsfeld farbig, rot hervorgehoben werden jene, an denen der Patient besonders leidet – etwa Erschöpfung oder Hoffnungslosigkeit“, sagt Nairz-Federspiel. Das Resultat wird mit dem Patienten besprochen, ebenso die nächsten Schritte – zum Beispiel eine medikamentöse Behandlung parallel zu den Therapie-Einheiten.
Knapp bei Krankenkasse. „Einige kommen aber gar nicht so weit“, sagt Sabine Sammer-Schreckenthaler von der Vereinigung Österreichischer Psychotherapeuten (VÖPP). „Es mangelt an Therapieplätzen auf Krankenschein, obwohl die Regierung weitere in Aussicht gestellt hat, die Wartezeiten sind daher teils enorm.“ Ihre Bandbreite liegt zwischen einem halben und einem Jahr. „Bei mir hat es neun Monate gedauert“, bestätigt Brückler. „Man muss sich das vorstellen: Dir geht es furchtbar, du hast dich endlich durchgerungen, dem ins Auge zu sehen, eine Diagnose erhalten, und dann heißt es: bitte warten.“
Eine Schieflage, die vor allem bürokratische Ursprünge hat. „In Österreich zählen wir fast 11.000 Psychotherapeuten, dazu kommen 8000, die in Ausbildung sind“, sagt Peter Stippl, Präsident des Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP). Die meisten davon, aktuell 4800, praktizieren in Wien. „Die Dichte hier entspricht dreimal dem EU-Durchschnitt“, sagt Stippl. Allerdings: „Der Flaschenhals sind die begrenzten Kassenverträge.“ Gemeint ist: „Jede Operation wird gemacht, jede Krankheit ohne Zögern verarztet – nur die psychotherapeutische Behandlung ist gedeckelt.“
Eine weitere Hürde: „Jedes Bundesland hat eigene Versorgungsvereine, die die Verträge vergeben und über die abgerechnet wird, weshalb keiner weiß, wie viele Kassentherapeuten es wirklich gibt“; geschätzt wird ihre Zahl auf bundesweit 4500. „Zu wenig“, sagt Stippl. Zwar erhalten der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zufolge 1,23 Prozent der Bevölkerung eine Therapie – aber: „Depressionen haben drei bis fünf Prozent, Tendenz steigend.“ Das zeigt auch eine im März veröffentlichte Studie von Donau-Uni Krems und Med-Uni Wien. Demnach zeigen 56 Prozent der über 14-Jährigen eine depressive Symptomatik, im Vergleich zu Vor-Lockdown-Zeiten eine Verfünfbis Verzehnfachung der Beschwerden.
Wozu noch aufstehen? Der häufigste Ausweg: Wer nicht warten will und es sich leisten kann, geht zu einem privaten Psychotherapeuten, andere kontaktieren Psychiater oder Psychologen (siehe Infobox). „Hier liegt das nächste Problem“, sagt Stippl. „Viele wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen.“ Sein Rat: „Im Zweifel den Hausarzt fragen.“
Ein Weg, den auch Klaus Brückler einschlug. „Es hat gedauert, bis ich Hilfe fand“, sagt der 32-Jährige. „Meine Eltern konnten mit meinen Symptomen nichts anfangen, verstehen sie bis heute nicht.“ Schon in der Schulzeit habe er eine wachsende Gefühllosigkeit und Mattheit verspürt, sich immer mehr zurückgezogen. „Ich nahm keine Emotionen mehr wahr, mich interessierte nichts mehr“, erzählt der Oberösterreicher. „Ich schlief immer schlechter, ich verlor meinen Appetit, war ungeduldig und gereizt, machte mir ständig Sorgen über Dinge, die noch gar nicht passiert waren, bekam Kopfschmerzen, war extrem müde – und wusste nicht mehr, wozu ich noch aufstehen sollte.“
Meine Eltern konnten mit den Symptomen nichts anfangen, verstehen es bis heute nicht.
Ein Zustand, der nicht enden wollte. „Irgendwann ging es mir so dreckig, dass ich mich nicht mehr aushielt und mich zum Arzt schleppte“, sagt Brückler. Er bestätigte dem damals 22-Jährigen, was dieser erwartet hatte: eine Depression. Und gab eine Empfehlung ab: Antidepressiva samt Psychotherapie.
Brückler hielt sich daran – bis heute: „Alle zwei Wochen gehe ich zu meiner Therapeutin, Tabletten nehme ich immer seltener.“ Regelmäßig betreibt der Medizinstudent indes Sport, meditiert, macht Atemübungen. „Alles, was Stress reduziert, hilft“, betont er. Vor allem aber: „Sich anderen anzuvertrauen und sich nicht zu schämen ist das A und O.“
Den Grund seiner Depression sucht Brückler übrigens nicht mehr: „Keiner hat die perfekte Kindheit“, sagt er. „Natürlich sollte man das reflektieren und professionell aufarbeiten, dann aber auch wieder nach vorn schauen.“